Liebe Gemeinde,
„eines Morgens erwachten sie in eine seltsame Stille hinein. Das Boot bewegte sich nicht mehr auf und ab, es lag praktisch bewegungslos auf dem Wasser. Kein Wind wehte. Der Ozean erstreckte sich in alle Richtungen in glänzender Glätte, offen zum Himmel und in kristallklarer Vollkommenheit dessen Bild widerspiegelnd. … Sie waren in die Kalmen geraten, die unheimliche Zone um den Äquator herum, in der Wind und Strömung aussetzen. Sie lagen‚ … wie ein gemaltes Schiff auf einem gemalten Meer‘“[1]. Stille, Glanz, Vollkommenheit.
Die zwei Männer, die diese Erfahrung von Transzendenz machen, sind jedoch nicht Touristen auf einem Kreuzfahrtriesen, sondern treiben auf offener See in einem Schlauchboot. Nach einem Flugzeugabsturz. Seit über 30 Tagen. Ihre Lage ist ganz schön – gefährlich.
Ein völlig anderes Bild malt Horst Großnick. In seinem Kinderlied mit dem Titel „Herbstwind“[2] heißt es:
Er ist wieder da und zaust mir durchs Haar, zerrt an mir rum, doch ich nehm’s ihm nicht krumm. Er heult mir was vor und schreit mir ins Ohr. Nachts lieg ich wach, denn er macht so’n Krach.
Er wirbelt und singt, dass es gruselig klingt, pfeift laut ums Eck und ist schon wieder weg. Ist manchmal ganz still, kommt und geht wann er will, unterwegs immerzu, gibt selten mal Ruh.
Herbstwind, Herbstwind, hab dich schon vermisst …
Herbst 2021. In den Sommermonaten wurde das Gemeindeleben runtergefahren. Drei Wochen kein Gottesdienst. Viele konnten ein paar Tage Urlaub nehmen und zur Ruhe kommen. Umso heftiger erscheint einem der Trubel, den der ganz normale … Alltag mit sich bringt. Gefühlt jagt ein Termin den anderen. Herbstwind. Im Gegensatz zum Lied wird mancher einwenden: „Ich hab dich nicht vermisst.“
Wie tröstlich ist, dass wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alles zum Guten mitwirkt (Rö.8, 28), was der Liederdichter so ausdrückt:
Bald mit Lieben, bald mit Leiden
kamst du, Herr, mein Gott, zu mir,
nur mein Herze zu bereiten,
sich ganz zu ergeben dir,
dass mein gänzliches Verlangen
möcht an deinem Willen hangen.
Tausend, tausend Mal sei dir,
großer König, Dank dafür.
Noch in einer zweiten Hinsicht haben uns die Bilder von Boot und Wind etwas zu sagen. Manche kennen das Lied „Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt“. Darin wird die Kirche mit einem Schiff, einem Boot verglichen. Eine ausgedehnte Windstille wäre schlimm. Ein Schreckensszenario. Eine Gemeinde, in der sich nichts bewegt, ist in Gefahr. Zumal das griechische Wort für Geist auch mit Wind übersetzt werden kann. So dass eine Gemeinde, in der sich nichts tut, eine gottverlassene wäre.
Damit wird nicht menschlicher Betriebsamkeit und blindem Aktionismus das Wort geredet. Nach dem Motto: „Hauptsache, es bewegt sich etwas“. Vielmehr wird der Erwartung Ausdruck verliehen, dass in diesem Herbst „vom Himmel her ein Brausen geschieht, wie von einem heftig dahinfahrenden Wind“. „Dass wir Feuer fangen und mit dem Heiligen Geist erfüllt werden“ (Apg.2, 2.4), um mutig „die Großtaten Gottes zu verkünden“ (2,11). –
Ein letzter Gedanke. Eines Morgens erwachen wir. Das Boot, das regungslos auf dem Wasser lag, bewegt sich. Auf und ab. Der Wind weht. Er ist wieder da. Zaust mir durchs Haar. Zerrt an mir rum. Das bedeutet auch: Es ist Zeit aufzustehen. Die Segel zu setzen. Das Ziel anzuvisieren. So rufen wir einander zu: „Steh auf und leuchte, Kind Gottes! Denn dein Licht kommt. Arise and shine, Vineyard Family! For the glory of the LORD has risen upon you (Jes.60, 1).“
In diesem Herbst belebt der Wind unser Jahresmotto. Das heißt: Wir stehen auf und leuchten!
Herzliche Grüße
Reiner
[1] Laura Hillenbrand. Unbeugsam. Eine wahre Geschichte von Widerstandskraft und Überlebenskampf. Klett-Cotta.2011. Stuttgart. S.194.
[2] https://fi-di-bus.de/images/herbstwind.pdf, aufgesucht am 22.09.2021.
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