Januar 2021

Liebe Vineyard-Family,

 

es gibt sie bereits heute und sie werden uns auch im neuen Jahr begleiten: geltende Regeln und Verordnungen, weitgehende Untersagungen und Einschränkungen, gesetzliche Bestimmungen und  verpflichtende Anweisungen.

Wie werden wir uns – persönlich und als Gemeinde – zu ihnen stellen? Stellen sie eine Bedrohung und/oder einen Schutz dar?

Freiheit ist ein hohes Gut. Gerade in unserer Gesellschaft, in der Individualität großgeschrieben und Selbstverwirklichung angestrebt wird. Immer wieder begegnet uns die Aufforderung: „Träume nicht dein Leben. Lebe deinen Traum.“ Aber wie? Jetzt, wo wir oft nicht selbst entscheiden dürfen, sondern für uns geregelt, geordnet, beschränkt und bestimmt wird. Wo Verpflichtungen und Anweisungen erlassen werden, denen neue Bußgeldkataloge und drastische Strafen Nachdruck verleihen.

„Flucht ist keine Lösung“, schreibt der Amerikaner Charles Cummings. „Sie bedeutet nur, dass ich die Schwierigkeiten, die in der Einsamkeit an die Oberfläche steigen, mitnehmen muss.“ Zugegeben, der Mann ist freiwillig Trappistenmönch geworden und in eine verbindliche Klostergemeinschaft eingetreten. Uns werden Verordnungen durch die Pandemie gezwungenermaßen von oben auferlegt. Doch was Charles Cummings über seine Zelle im Kloster schreibt, kann auch für die Kontaktbeschränkungen, Reisewarnungen und Ausgangssperren, die uns betreffen, richtungsweisend sein.

„In der Zelle ausharren bedeutet: Ich habe mich dafür entschieden, so lange zu bleiben, bis ich gelernt habe, mit mir selber zu leben, mit all meinen Fehlern, meinem Versagen, meiner Leere, meinen Mängeln, während ich geduldig darauf warte, dass Gottes Barmherzigkeit mich heilt und mein Herz und meine Zelle mit seinem Frieden erfüllt. Die Zelle ist der Ort, wo ich die Stellung halte, bis ich entdecke, wer ich bin, und wozu ich berufen bin … Das geduldige Bleiben in der Zelle zeigt mir, wie ich in jeder Lebenslage, wie dunkel sie auch sein mag, unter die Oberfläche schauen kann, bis ich das Licht des Willens und der Liebe Gottes entdecke, ohne diesen Platz, an den Gott mich gestellt hat, verlassen zu müssen.“[1]

Die (Kloster-/Gefängnis-) Zelle steht für Grenzen, Einschränkungen und Verpflichtungen. Die Zelle ist aber auch der Grundbaustein des Organismus, ein kleines Gewächshaus des Lebens. In diesen  Bedeutungen des Wortes liegt ein Geheimnis, wenn wir sie zusammendenken. Indem ich Begrenzungen zulasse, bewusst wähle, mich für sie entscheide, setze ich die Lebens- und Schaffenskraft der Zelle frei, die ihr innewohnt. Verweilen wir einen Moment bei diesem Bild (vgl. auch Joh.12, 24f).

Lassen wir einmal die Corona-Pandemie und ihre besonderen Begleiterscheinungen außen vor. Begrenzungen und Einschränkungen gibt es auch ohne sie. Unsere Wesenszüge, Charakteranlagen, unsere familiäre Situation, ob Single oder verheiratet, die Kollegen am Arbeitsplatz, unsere Gemeindegruppen – sie sind Bausteine unserer Zelle. Unter Umständen unterscheiden sich unsere Steine erheblich von denen anderer Personen. Die Wahl, vor die sie uns stellen, ist jedoch dieselbe. Wir können vor den Grenzen unserer Situation flüchten oder die Herausforderung annehmen.  Wir können uns innerlich dagegen sträuben oder fragen: „Was willst Du mir, HERR, durch diese Situation sagen?“ Wir können Gott suchen in allen Dingen.

Angesichts der unabsehbaren Folgen, die die Pandemie nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht mit sich bringt. Angesichts von Bestimmungen, Regeln und Verordnungen wünsche ich uns für das neue Jahr, dass wir das „Gott suchen in allen Dingen“, das „Gott in der Zelle suchen“ nicht aus den Augen verlieren. Darauf liegt ein großer Segen (Jer.29, 13-14).

In herzlicher Verbundenheit,

Reiner

[1] Zitiert in: Magnus Malm. Abschied von Babel. Wie heilsame Grenzen uns bewahren. Brockhaus Verlag. Wuppertal 2002. S.107f.

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